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Freitag, Januar 13, 2012

Buchvorstellung mit Roman L - Ausgabe 113

Heute:



Julian Barnes wurde 1946 in Leicester, England geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen zunächst als Lexikograf und Journalist. Neben mehr als einigen Literaturpreisen gewann er 2011 den Booker Prize für "Vom Ende einer Geschichte", einem Roman über das Einholen der Vergangenheit.

Einige der besten Zeilen:
- Was ist glaubwürdiger als ein Sekundenzeiger?
- Damals war alles schlichter und klarer: weniger Geld, keine elektronischen Geräte, wenig Modediktat, keine Freundinnen. Nichts konnte uns von unseren Pflichten als Mensch und Sohn ablenken, und die bestanden darin, zu lernen, Prüfungen zu bestehen, mithilfe dieser Qualifikationen eine Arbeitsstelle zu finden und sich dann eine Lebensweise anzueignen, die auf nicht bedrohliche Weise erfüllter war als die unserer Eltern und deren Beifall fand; dabei würden sie diese Lebensweise insgeheim mit ihrem eigenen früheren Leben vergleichen, das einfacher und somit von höherem Wert gewesen wäre.
- Und wenn dieser Moment käme, würde unser Leben – und die Zeit selbst – an Fahrt gewinnen. Wie sollten wir auch wissen, dass unser Leben ohnehin begonnen hatte, dass mancher Vorsprung bereits gewonnen, mancher Schaden bereits angerichtet war?
- Das war auch so eine Angst, die uns quälte: dass es im Leben anders zugehen könnte als in der Literatur. Unsere Eltern, zum Beispiel – waren die etwa Stoff für die Literatur? Die dürften doch bestenfalls als Beobachter und Zuschauer Verwendung finden, Teil eines gesellschaftlichen Hintergrunds, vor dem sich reale, wirkliche, bedeutsame Dinge abspielen könnten.
- Gleich am Anfang hatte sie mich gefragt, warum ich meine Uhr innen am Handgelenk trug. Ich fand keine Begründung dafür, darum drehte ich die Uhr herum und trug dann die Zeit außen, wie alle normalen erwachsenen Menschen.
- Sie wohnte in Kent, an der Eisenbahnstrecke nach Orpington, in einem der Vororte, die in allerletzter Minute aufgehört hatten, die Natur kaputtzubetonieren, und sich seitdem selbstgefällig als ländliche Gemeinden bezeichneten.
- Rückblickend sehe ich allerdings, dass nicht der Tag zerfaserte, sondern unser Viererbund.
- Für mich war das der Anfang vom Ende unserer Beziehung. Oder habe ich es nur so in Erinnerung, um diesen Anschein zu erwecken und die Schuldfrage zu klären?
- Wenn du mir eine kurze Geschichtslektion gestattest: Für die meisten Leute fanden »die Sechziger« erst in den Siebzigern statt. Was logischerweise bedeutete, dass in den Sechzigerjahren für die meisten Leute noch die Fünfziger stattfanden – oder in meinem Fall, Teile beider Jahrzehnte nebeneinander. Was die ganze Sache ziemlich verwirrend machte.
- Im Privatleben trifft meiner Meinung nach das Gegenteil zu: dass man aus der jetzigen geistigen Verfassung auf frühere Handlungen schließen kann.
- Manche Leute geben den Schaden zu und versuchen, ihn zu mildern; andere versuchen ihr Leben lang, anderen, die einen Schaden erlitten haben, zu helfen; dann gibt es noch die, deren größte Sorge es ist, um jeden Preis weiteren Schaden von sich abzuwehren. Und das sind die Skrupellosen, vor denen man sich in Acht nehmen muss.
- Wir treffen eine instinktive Entscheidung und bauen uns dann eine Infrastruktur von Argumenten auf, um diese Entscheidung zu rechtfertigen. Und das Ergebnis nennen wir gesunden Menschenverstand.
- Wir hatten bereits angefangen, unsere Vergangenheit in Anekdoten zu verwandeln.
- Ist dir schon mal aufgefallen, dass man sich, wenn man mit Leuten wie Anwälten spricht, nach kurzer Zeit nicht mehr wie man selbst anhört, sondern so wie sie?
- Je mehr man lernt, desto weniger fürchtet man. »Lernen« nicht im Sinne akademischer Studien, sondern im praktischen Verstehen des Lebens.
- Hatte mein Leben sich gesteigert oder nur vermehrt?
- Komisch, wie sich das Bild der Körperhaltung eines Menschen für immer einprägt.
- Wenn wir jung und empfindsam sind, sind wir auch am verletzendsten; wenn aber das Blut allmählich langsamer fließt, wenn unsere Empfindungen abgestumpft sind, wenn wir besser gewappnet sind und gelernt haben, Verletzungen zu ertragen, dann lassen wir mehr Vorsicht walten.
- Vielleicht ist es mit dem Charakter so ähnlich wie mit der Intelligenz, nur dass der Charakter seinen Höhepunkt etwas später erreicht: sagen wir, zwischen zwanzig und dreißig. Und danach müssen wir uns einfach mit dem begnügen, was wir haben.
- Wenn man jung ist – als ich jung war –, will man, dass die eigenen Empfindungen so sind wie die, von denen man in Büchern liest. Man will, dass sie das ganze Leben umkrempeln, dass sie eine neue Realität schaffen und bestimmen. Später will man, glaube ich, dass sie etwas Sanfteres tun, etwas Praktischeres: Sie sollen das Leben unterstützen, so wie es ist und geworden ist. Sie sollen dir sagen, dass alles in Ordnung ist. Und ist das etwa verkehrt?
- Ich erzählte ihr die Geschichte meines Lebens. Die Version, die ich mir selbst erzähle, die Darstellung, die einer Prüfung standhält.

Barnes ist ein Virtuose der Sprache und hier produziert er mannigfaltige Gefühle über die Zeit, Trauer, den Sinn und Irrsinn.
Lesen!


192 Seiten; Kiepenheuer & Witsch; 18, 99 Euro.

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